Wenn Normen kollidieren: Die COVID-19-Pandemie und schwierige Entscheidungen über Norm- und Wertehierarchien

Normkollisionen im Zeichen von COVID-19 führen unweigerlich zu Konflikten [Bild: U. Soberanes/Unsplash]
Politik ist — nach der berühmten Definition von David Easton — die „autoritative Allokation von Werten“ wie Wohlfahrt, Sicherheit oder Freiheit. Politiker*innen müssen daher Entscheidungen über die Hierarchie zwischen diesen Werten treffen und diese im Fall von Konflikten gegeneinander aufwiegen. Der Konflikt über den Zugang zu essentiellen Medikamenten stellt ein wohlbekanntes Beispiel der internationalen Politik dar. Im Zeichen der COVID19-Pandemie kommt es darüber hinaus zu vielfachen Normkollisionen mehr, welche bestehende Hierarchien langfristig umwälzen werden. So wird der Gesundheit von Risikogruppen gegenwärtig mehr Gewicht zugesprochen als das Recht von Kindern auf Betreuung, Bildung, Spiel und Austausch mit Gleichaltrigen. Auch Masernimpfkampagnen wurden in 24 Ländern ausgesetzt.

Gleichzeitig avanciert die Frage, welche Berufe als systemrelevant gelten und welche nicht, dieser Tage zum Politikum. Sie spielt nicht nur eine zentrale Rolle in der Implementierung von Notfallmaßnahmen, sondern wirft auch darüber hinaus Streitpunkte auf. Welche Geschäfte dürfen zuerst öffnen? Welche Industriezweige sind am wichtigsten? Was ist in einer Gesellschaft essenziell.

Lesen Sie mehr über internationale Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Normkollisionen im gesamten englischsprachigen Artikel von Sassan Gholiaga, Anna Holzscheiter und Andrea Liese hier.

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Der harte Schatten der Gesundheitspolitik – die COVID-19-Pandemie und die scheinheilige Metapher des ‘Lebenrettens’

Öffentliche Gesundheit muss auch außerhalb von Krisenzeiten Priorität haben [A. Forouzani/Unsplash]
Der gegenwärtige globale gesundheitliche, ökonomische, politische und soziale Notstand wird uns mehr denn je ins Bewusstsein rufen, wie sehr jede und jeder einzelne von uns verantwortlich ist für das Gemeinschaftsgut, das sich öffentliche Gesundheit nennt. Auch dann, wenn wir uns nicht gerade „im Krieg“ mit einem hochansteckenden Pathogen befinden. Ende 2018 lebten in Deutschland über 87.000 Menschen mit HIV – im selben Jahr hatten sich 2.400 Menschen neu mit dem Virus infiziert. 82.000 Masernfälle und eine sich stetig verschlechternde Immunisierungsrate wurden 2018 vom WHO-Regionalbüro in Europa registriert, deutlich weniger als die für eine Ausrottung der Kinderkrankheit erforderlichen 95%. Infektionsraten sexuell übertragbarer Krankheiten sind in den USA zwischen 2014 und 2018 dramatisch gestiegen – 2018 starben dort 94 Neugeborene, weil ihre Mütter sich mit Syphilis angesteckt hatten. Dies sind nur einige von vielen Beispielen dafür, wie unsere täglichen Entscheidungen in Gesundheitsfragen – für uns selbst, unsere Kinder, gegen safer sex – sich auf die Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen wir leben, auswirken können und welche Risiken sie bergen.

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Ausnahme oder dauerhafte Ermächtigung? Zur Notstandspolitik internationaler Organisationen

Wie wird die WHO auf den Ausbruch von 2019-nCoV reagieren? [Foto: Getty Images]

Anmerkung: Eine erste Version dieses Artikels ist im Dezember 2019 auf E-IR erschienen. Der Autor dankt Hendrik Damerow für Unterstützung bei der Übersetzung aus dem Englischen.

In den letzten drei Jahrzehnten haben internationale Organisationen (IOs) erheblich an politischer Autorität hinzugewonnen. Gleichzeitig jedoch bleibt IO-Autorität in der Praxis stark eingeschränkt. In der täglichen Politik verhindern Meinungsverschiedenheiten zwischen mächtigen Staaten, rechtliche Hürden und allgemeine Souveränitätsbedenken nicht nur die Ausweitung von IO-Autorität, sondern behindern auch generell deren wirksame Ausübung.

In Zeiten globaler oder regionaler Krisen schaffen „Gelegenheitsfenster“ und politische Notwendigkeiten jedoch zuweilen Bedingungen, in denen „Autoritätssprünge“ auftreten können, wenn IOs selbstbewusst eingreifen und normalerweise geltende rechtliche oder politische Zwänge umgehen. Im Lichte außergewöhnlicher Umstände können IOs strukturell ähnlich agieren wie nationale Regierungen im Ausnahmezustand: Sie eignen sich Notstandsgewalten an, indem sie ihren exekutiven Ermessensspielraum ausdehnen und gleichsam in die Rechte der Regelungsadressaten eingreifen. So zumindest argumentiere ich in meinem neuen Buch Emergency Powers of International Organizations (EPIO).

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