Die WHO gibt derzeit in vielen Ländern den Ton an für die Strategie zur Eindämmung der Covid-19- Pandemie. Ihre Aufklärungskampagnen und Empfehlungen zum Umgang mit Covid-19 sind, wenngleich nicht unumstritten, doch weithin sichtbar und bestätigen eine ihrer Kernrollen: die der epidemiologischen Fachinstanz und Krisenberaterin, gerade in ressourcenschwächeren Ländern.
Die Rolle als epidemiologische Schaltzentrale ist jedoch von einem Paradox geprägt. Denn die 1946 gegründete WHO hat einerseits die Stärke, dass sie im Rahmen ihres technokratisch-beratenden Mandats einzig und allein im Namen der Gesundheit spricht. Sie ist dafür zuständig zu beurteilen, wie Menschenleben gerettet werden können, und klärt auf gegen medizinische und epidemiologische Fake News. Andererseits finden ihre Ratschläge außerhalb von Krisenzeiten wenig Gehör. Dass Vorsorge besser ist als Heilen, dass Gesundheitssysteme bereit sein müssen für die Bekämpfung vieler verschiedener Krankheiten und nicht nur derjenigen, die gerade entwicklungspolitische Mode sind, dass soziale Grundsicherung der Kern von Gesundheitspolitik ist – diese Botschaften sendet die WHO seit Jahrzehnten mit viel zu wenig Erfolg. Dafür gibt es viele Gründe. Zwei davon möchte ich hier hervorheben.
Erstens stoßen die sozialpolitischen Initiativen der WHO seit ihrer Gründung auf massive Abwehr. Ihre Arbeiten zum Thema Krankenversicherung, zur Auswirkung von Patenten auf die Gesundheitsversorgung oder zu den breiteren sozioökonomischen Voraussetzungen von Gesundheit wurden immer wieder von den Ländern des globalen Nordens abgelehnt oder ignoriert. Im Kalten Krieg schmetterten die USA die Vorschläge der WHO als „Einfallstor zum Sozialismus“ ab, in den 1980er Jahren wurden Ansätze für eine umfassende primäre Gesundheitsversorgung von der neoliberalen Privatisierungswelle hinweggefegt und sind seither reduziert auf Methoden der „selektiven“ Primärversorgung, etwa auf punktuelle Technologien wie Impfstoffe oder kostengünstige Diagnostika. Doch die Kosteneffizienz solch „smarter“ Investitionen wird häufig unter der Grundannahme berechnet, dass die Regionen, in denen sie eingesetzt werden, mittelfristig arm und unterentwickelt bleiben. Chronische Notversorgung wird damit als Norm zementiert.
Eng damit zusammen hängt zweitens das ideologische Primat der Medizin in der Gesundheitspolitik. Es scheint, als müsse man sich in der Weltgesellschaft die Position als Experteninstanz für Gesundheit mit einer eng definierten medizinischen Rolle erkaufen – einer Medizin, die beim erkrankten Individuum ansetzt und die das Biologische in den Vordergrund rückt. Dabei versucht die WHO seit Langem auf die sozialen Faktoren hinzuweisen, die für eine ungleiche Verteilung von Gesundheit und Krankheit sorgen. Die starke wissenschaftliche Evidenz für die vielen nichtmedizinischen und langfristigen Determinanten von schlechter Gesundheit – Armut, Wohnungsnot, Arbeitsplatzunsicherheit, Rassismus, Gewalt, Umweltverschmutzung oder Patentregelungen -, führt nur selten zu einem Umdenken bei den politischen Entscheidungsträger*innen. Das vorherrschende medizinische Bild von Gesundheit fungiert als ideologischer Filter, der die sozialpolitische Dimension von Gesundheit außen vor lässt.
Die WHO hat ein Budget, das etwa so groß ist wie das eines gut aufgestellten Schweizer Universitätskrankenhauses. Sie kann nur Empfehlungen zur Stärkung der Gesundheitssysteme oder zur Pandemieabwehr abgeben, nicht jedoch Finanzhilfe leisten. Sie kann Staaten nicht zur internationalen Solidarität zwingen. Nun, da sich die Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent ausbreitet, bleibt der WHO nur noch die bittere Aufgabe der Krisenmanagerin. In vielen Fällen ist sie nur noch die Überbringerin von schlechten Nachrichten, etwa, wenn sie lokalen Bürgermeistern rät, Slums zu evakuieren.
Die jüngst erhobene Forderung nach einer Chefökonomin oder einem Chefökonomen für die WHO könnte ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Eine solche Position würde die WHO deutlicher mandatieren, klare Expertisen abzugeben, etwa zu gesundheitlichen Auswirkungen unfairen Handels oder zum politischen Spielraum, den Entscheidungsträger*innen auch in Rezessionen haben, um durch soziale Sicherung die Menschen zu schützen, statt sie auf dem Altar der Austerität zu opfern.
Doch leider: Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich für die Post-Corona-Zeit Serien von Hackathons für digitale Fernversorgung oder für aufblasbare Quarantäne-Ersatzslums vorzustellen, die erneut nicht an die tieferliegenden Ursachen rühren. An diese wird die WHO uns von Zeit zu Zeit erinnern, aber wir werden weghören. Solange die Gesundheit als Menschenrecht nur in Zeiten massenhafter, sichtbarer Todesfälle anerkannt wird, wird die Gesundheitspolitik auf Krankheitspolitik reduziert bleiben.
Hinweis: Dieser Beitrag ist ebenfalls in der WZB-Reihe “Corona und die gesellschaftlichen Folgen – Schlaglichter aus der WZB-Forschung” erschienen.