Es sind nicht nur ältere Menschen mit Vorerkrankungen, die auf der Liste der potenziellen Opfer der Corona-Krise stehen. Manche sagen auch das Ende der Globalisierung als Folge der Pandemie vorher. Krisen sind tatsächlich Momente für historische Weichenstellungen. Allerdings verändert sich nach einer Krise nie alles.
Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt uns, dass sich gesellschaftliche Praktiken als Folge einer Krise dann ändern, wenn drei Bedingungen erfüllt sind. Die Praktiken müssen, erstens, als ursächlich oder zumindest verschärfend für die Krise angesehen werden. Eine exogen verursachte, gleichsam unverschuldete Unternehmenskrise bedarf laut Lehrbuch weit weniger der Restrukturierung als eine endogene, durch eigene Fehler verursachte Krise. Es müssen, zweitens, Alternativen bestehen, die umsetzbar und nicht allzu kostenträchtig sind. Während der Ozonkrise beispielsweise konnten sich Ersatzstoffe für das verursachende FCKW relativ schnell durchsetzen, da ihre Entwicklung nicht teuer war. Besonders wahrscheinlich führt eine Krise dann zur Änderung, wenn drittens die betroffenen Praktiken schon vor der Krise rückläufig waren. So führte der Zweite Weltkrieg nicht zuletzt deswegen zu einem Dekolonisierungsschub, da der Kolonialismus schon vorher seinen Höhepunkt überschritten hatte.
Nach der Krise ist vor der Krise
Es muss also bezweifelt werden, dass die ökonomische Globalisierung auch zum Opfer von SARS-CoV-2 wird. Denn zunächst ist das Virus ein exogener Schock, der als solches keine Folge der Globalisierung ist. Die Pandemie tritt lokal auf und verbreitet sich dann epidemisch in der Region. Die globale Ansteckungskarte versinnbildlicht das durch die vielen mehr oder weniger dicken Kreise, die jeweils für eine regionale Epidemie stehen. Insofern ist die gegenwärtige Pandemie eigentlich eine Epidemie von vernetzten regionalen Epidemien. Für die Ansteckung von Regionen zu Region reichen aber die normalen Verkehrsverbindungen einer interdependenten Welt. Erst wenn keine Flugzeuge mehr fliegen, keine Züge und Schiffe mehr fahren, lässt sich ein Virus regional einsperren. Das aber käme nicht dem Ende der Globalisierung gleich, es wäre eher eine Rückkehr ins 18. Jahrhundert. Selbst 1831 konnte die aus Asien kommende Cholera trotz eines militärischen Sperrgürtels nach Europa gelangen. Der ursächliche Beitrag des weiteren Globalisierungsschubes der 1990er und 2000er Jahre zur Ausbreitung der globalen Pandemie ist gering.
Fraglos gäbe es Alternativen zu den globalen Produktions- und Lieferketten. Eine partielle Renationalisierung der Wirtschaftsabläufe ist möglich. Das führt aber zu erhöhten Kosten und zu erheblichen Wohlfahrtsverlusten. Wenn die Normalität zurückkehrt, dann werden überall die öffentlichen und privaten Schuldenberge angewachsen sein. Wir werden uns in einer globalen Rezession befinden. Der Kostendruck wird besonders hoch sein. Das ist kein Umfeld, in dem die Wahrscheinlichkeit der Globalisierung abnimmt. Zwar hat das Tempo der Globalisierung bereits vor der Krise abgenommen, das sollte aber nicht mit einem Rückgang verglichen werden. Die ökonomische Globalisierung befand sich vor der Krise auf einem hohen Niveau. Vermutlich wird sie nach der Krise wieder auf dieses Niveau zurückkehren.
Vorsicht ist also angesagt beim vorschnellen Ausrufen des Endes der Globalisierung. Exogene Schocks verändern langfristig meist weniger als es das Ausmaß der Krise vermuten lässt. Natürlich werden in der Krise neue soziale Praktiken eingeübt, die dann Bestand haben können, wenn sie sich als funktionstüchtig erweisen. So wird es vermutlich auch nach der Krise mehr Videokonferenzen und weniger internationale Geschäftstreffen als zuvor geben. Das wäre sinnvoll. Wahrscheinlich wird das Virus das Sterben des Einzelhandels vor Ort beschleunigen und den Marktanteil von Amazon und Co. weiter erhöhen. Das wäre schade. Vielleicht führt das Corona-Virus auch zum Ende des Händedrucks und des Begrüßungskusses als soziale Praxis. Daran würden wir uns gewöhnen. Dass aber deutsche Unternehmen in großem Ausmaß ausländische Produktionsstätten abbauen, erscheint unwahrscheinlich. Zwar sind Unternehmen, die von Lieferungen aus Wuhan abhängen, im Februar in Schwierigkeit geraten. Wenn sie aber ihre Produktionsstätte oder ihren Zulieferer in Nordrhein-Westfalen gehabt hätten, dann wäre das Problem genauso, nur etwas später aufgetreten. Vieles spricht also dafür, dass nach der Krise vor der Krise ist. Alle werden wieder springen und sich gerade angesichts der zu erwartenden schlechten ökonomischen Zahlen mehr denn je bemühen. Also ein Zurück in die globalisierte Zukunft.
Rückkehr des Nationalstaats oder Renaissance der Regulation?
Etwas anders sieht es mit Blick auf die politische Globalisierung aus. Viele sehen die momentane Krise als die Stunde der Exekutive. Allerdings machen andere darauf aufmerksam, dass es sich eigentlich um eine Renaissance der politischen Regulation und weniger um eine Rückkehr zum souveränen Nationalstaat handelt. Denn nur im effektiven Zusammenspiel von internationaler Koordination, nationalstaatlichen Eingriffen und lokaler Umsetzung kann eine effektive Schadensbegrenzung erreicht werden. Erlauben wir also gar die Renaissance der politischen Globalisierung in Form der Rückkehr internationaler Kooperation?
Die Funktionstüchtigkeit von Arrangements ist wichtig. Allein aus der Notwendigkeit und Wünschbarkeit der internationalen Zusammenarbeit können aber wir keine Neugeburt der globalen Zusammenarbeit ableiten. Denn in diesem Bereich haben wir tatsächlich in den letzten Jahren eine Trendwende erlebt: eine Rückkehr zum Unilateralismus und eine tiefe Krise der Global Governance, obgleich die funktionale Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit nicht abgenommen hat. Anders als die Indikatoren zur ökonomischen Globalisierung zeigen die Indikatoren über die relative Bedeutung internationaler Institutionen in den letzten Jahren eher nach unten. Der Grund liegt in der globalen Stärkung von nationalistischen politischen Ideologien, die die nationale Souveränität um keinen Preis beschränkt sehen wollen. Das Nationale setzt dem Kosmopolitischen inzwischen zu. Dabei dient das Äußere als Feind und Sündenbock, keinesfalls als Kooperationspartner. Diese Bewegung ist wuchtig und mächtig: Putin, Erdogan, Bolsonaro, Trump, Modi und Kaczyński regieren inzwischen die Mehrheit der großen Territorialstaaten.
Pandemie und Systemfrage
Zur Zeit lässt sich die Welt in drei Typen von politischen Systemen unterteilen. Erstens die verbliebenen liberalen Demokratien, welche sich für eine starke internationale Ordnung einsetzen, die auch tief in nationalstaatliche Entscheidungsprozesse hineinwirken kann: Beispiele sind Kanada, Frankreich oder Deutschland. Zweitens der Typus der technokratischen Autokratie, wie er vor allem in Asien – beispielsweise in China und Singapur – besteht. Diese Ordnungen stehen rhetorisch und auch praktisch für eine Mitarbeit in internationalen Institutionen zur Verfügung, widersetzen sich ihnen aber da, wenn sie auf menschrechtlicher Basis in diese Länder hineinwirken wollen. Schließlich gibt es den neuen Typus der autoritär-populistischen Regierungen, die sich internationalen Institutionen vehement widersetzen und sie als Teufelszeug korrupter liberaler Eliten ansehen.
Wahrscheinlich wird der politische Langzeiteffekt der Corona-Krise davon abhängen, wie sich die unterschiedlichen Systeme beim Kampf gegen das Virus schlagen. Gegenwärtig gibt es Anzeichen dafür, dass die technokratischen Autokratien und zumindest einige der liberalen Demokratien besser aus der Krise kommen werden. Beide Systeme haben die Gemeinsamkeit, dass sie offen für Expertise sind und gesellschaftliche Solidarität betonen. Insbesondere Virologen spielen hier eine wichtige Rolle bei Entscheidungsfindungen. Die autoritär-populistischen Systeme hingegen widersetzen sich zumindest rhetorisch der Expertise, die genauso wie internationale Institutionen als liberal-kosmopolitisch verteufelt wird. Das könnte sich beim Umgang mit einer Epidemie als problematisch erweisen. Wenn sich infolgedessen das Kräfteverhältnis der drei Herrschaftsordnungen wieder von autoritären Populisten wegbewegen sollte, so könnte es zu einer erneuten Stärkung der politischen Globalisierung kommen.
Bis dahin vergeht noch einige Zeit. In dieser Zeit wird zunächst ein Kampf aufbranden, sobald das Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird. Dabei geht es um die Deutung dessen, was als erfolgreich gilt und was als die Ursachen der Krise auszumachen sind Das Ergebnis wird nicht nur durch objektive Begebenheiten bestimmt, sondern auch durch politische Deutungskämpfe. Dieser Kampf über die Deutung der Ursachen und über die erfolgreichen Instrumente zur Bekämpfung hat bereits begonnen. Dessen Intensivierung wird die erste Folge der Krise sein. Erst wenn diese Schlacht geschlagen ist, werden wir mehr über die ökonomischen und auch politischen Folgen der Corona-Pandemie sagen können.
Dieser Beitrag ist in veränderter Fassung ebenfalls in der WZB-Reihe “Corona und die gesellschaftlichen Folgen – Schlaglichter aus der WZB-Forschung” erschienen.
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