Der harte Schatten der Gesundheitspolitik – die COVID-19-Pandemie und die scheinheilige Metapher des ‘Lebenrettens’

Öffentliche Gesundheit muss auch außerhalb von Krisenzeiten Priorität haben [A. Forouzani/Unsplash]
Der gegenwärtige globale gesundheitliche, ökonomische, politische und soziale Notstand wird uns mehr denn je ins Bewusstsein rufen, wie sehr jede und jeder einzelne von uns verantwortlich ist für das Gemeinschaftsgut, das sich öffentliche Gesundheit nennt. Auch dann, wenn wir uns nicht gerade „im Krieg“ mit einem hochansteckenden Pathogen befinden. Ende 2018 lebten in Deutschland über 87.000 Menschen mit HIV – im selben Jahr hatten sich 2.400 Menschen neu mit dem Virus infiziert. 82.000 Masernfälle und eine sich stetig verschlechternde Immunisierungsrate wurden 2018 vom WHO-Regionalbüro in Europa registriert, deutlich weniger als die für eine Ausrottung der Kinderkrankheit erforderlichen 95%. Infektionsraten sexuell übertragbarer Krankheiten sind in den USA zwischen 2014 und 2018 dramatisch gestiegen – 2018 starben dort 94 Neugeborene, weil ihre Mütter sich mit Syphilis angesteckt hatten. Dies sind nur einige von vielen Beispielen dafür, wie unsere täglichen Entscheidungen in Gesundheitsfragen – für uns selbst, unsere Kinder, gegen safer sex – sich auf die Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen wir leben, auswirken können und welche Risiken sie bergen.

Es ist zu hoffen, dass das geschärfte Bewusstsein der Menschen für den Zusammenhang zwischen individuellen Entscheidungen und kollektiver Gesundheit im Kontext dieser außerordentlichen Gesundheitskrise auch die kontroversen Debatten erreichen wird, die wir schon vor Corona geführt haben. Gerade erst haben wir eine intensive gesellschaftliche und politische Debatte über Organspende miterleben dürfen, die am Ende zugunsten von Selbstbestimmung und körperlicher Unversehrtheit entschieden wurde und gegen neue Regulierungen, die aktives Handeln gegen Organspende statt dafür erfordert hätten. Tausende Leben könnten verlängert werden, wenn mehr Deutsche eine Organspende in Betracht ziehen würden. ((Am 1. Januar 2020 hatte Eurotransplant 9004 Personen in Deutschland gelistet, die auf eine Organspende warten. Siehe https://www.eurotransplant.org/patients/deutschland/, letzter Zugriff: 26. März 2020)) Aber plötzlich, mit der Corona-Krise, geht jedem die Formel ‚Leben retten‘ ganz leicht von den Lippen. Für viele Menschen gerade deshalb, weil ihr Beitrag zur Rettung der ist, daheim zu bleiben und die Gesellschaft auszusperren. Wenn es allerdings darum geht, den Impfstatus zu überprüfen, mit seinen Kindern über safer sex und Schutz gegen Geschlechtskrankheiten zu sprechen oder einen Organspendeausweis auszufüllen, verblasst das ‚Leben retten‘- Mantra schnell in unseren Köpfen.

Die Realität der Gesundheitspolitik

Die Scheinheiligkeit des ‚Leben retten‘ drückt sich auch in dem Umstand aus, dass wir nur in außerordentlichen Situationen – so wie jetzt – anerkennen, dass Gesundheitspolitik nicht nur damit befasst ist, Leben zu retten, Leben zu verlängern, und das bestmögliche physische und psychische Wohlergehen zu ermöglichen. Nein, Gesundheitspolitik bedeutet auch in weniger stürmischen Zeiten, das Leben und Wohlergehen bestimmter Menschen und Bevölkerungsgruppen über dasjenige anderer zu stellen. Das Prinzip der ‚Triage‘, welches wir jetzt alle verinnerlicht haben, ist quasi konstitutiv für Gesundheitspolitik. Wie stark war die öffentliche Empörung 2012, als der damalige Gesundheitsminister Daniel Bahr vorschlug, Knie- und Hüftoperationen für ältere Menschen drastisch zu reduzieren. Es liegt in der Natur von Gesundheitssystemen unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit, dass sie an einem bestimmten Punkt Kosten und Nutzen bestimmter Gesundheitsleistungen abwägen müssen  – und die anhaltende Privatisierung und Ökonomisierung von einstmals starken öffentlichen Gesundheitssystemen wird diese Rationalität weiter beschleunigen.

Die menschlichen Tragödien, die sich in diesen Tagen in Italien, Spanien, Iran, den USA und Großbritannien abspielen – und die möglicherweise auch noch auf unser eigenes Land zukommen – machen uns mehr denn je bewusst, dass existenzielle Entscheidungen nicht die Ausnahme, sondern die Norm sind, in der medizinischen Praxis wie in der Gesundheitspolitik. Zu behaupten, dass das Tagesgeschäft der Gesundheitspolitik im Retten von Leben bestünde heißt, sich eine Rhetorik anzueignen, deren Ziel es ist, die breite Öffentlichkeit von den grausamen Entscheidungen fernzuhalten, die dieses Politikfeld kennzeichnen. Gesundheitspolitik heißt auch: Verhandlungen über Forschung und Entwicklung für einige Wirkstoffe aber nicht für andere, Verhandlungen über Preise für Medikamente und Therapien, die sich manche/viele Patientinnen und Patienten, Versicherungen und öffentliche Gesundheitssysteme nicht leisten können. Und nicht zuletzt über ein öffentliches Gut, das zu einem sehr großen Teil von Märkten und den Entscheidungen profitorientierter Industrien abhängig ist, allen voran der Pharmaindustrie und der Biotechnologie.

Zu guter Letzt erstreckt sich die Scheinheiligkeit der ‚Leben retten‘-Formel auch auf die globale Gesundheit. Trotz der wahrgenommenen nationalen Abschottung in Zeiten der Coronakrise und der unterschiedlichen Strategien und Tempi der nationalen Antworten auf die Pandemie haben doch viele entwickelte Gesundheitssysteme eines gemeinsam: sie verlassen sich in immer größerem Ausmaß auf Gesundheitspersonal aus dem Ausland. Länder wie Deutschland, Großbritannien und Schweden haben in den Nachwehen der Finanzkrise 2008/2009 immens von der Migration vieler Ärztinnen und Ärzte und Krankenpfleger und -pflegerinnen aus Süd- und Osteuropa profitiert. ((World Health Organization (2014), Migration of Health Workers. WHO Code of Practice and the Global Economic Crisis (Geneva: WHO)) Es sind diese Dynamiken globaler Ungleichheit, die viele von uns wesentlich weniger verwundbar für existentielle Gesundheitsbedrohungen machen als Milliarden andere Menschen.

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