Ausnahme oder dauerhafte Ermächtigung? Zur Notstandspolitik internationaler Organisationen

Wie wird die WHO auf den Ausbruch von 2019-nCoV reagieren? [Foto: Getty Images]

Anmerkung: Eine erste Version dieses Artikels ist im Dezember 2019 auf E-IR erschienen. Der Autor dankt Hendrik Damerow für Unterstützung bei der Übersetzung aus dem Englischen.

In den letzten drei Jahrzehnten haben internationale Organisationen (IOs) erheblich an politischer Autorität hinzugewonnen. Gleichzeitig jedoch bleibt IO-Autorität in der Praxis stark eingeschränkt. In der täglichen Politik verhindern Meinungsverschiedenheiten zwischen mächtigen Staaten, rechtliche Hürden und allgemeine Souveränitätsbedenken nicht nur die Ausweitung von IO-Autorität, sondern behindern auch generell deren wirksame Ausübung.

In Zeiten globaler oder regionaler Krisen schaffen „Gelegenheitsfenster“ und politische Notwendigkeiten jedoch zuweilen Bedingungen, in denen „Autoritätssprünge“ auftreten können, wenn IOs selbstbewusst eingreifen und normalerweise geltende rechtliche oder politische Zwänge umgehen. Im Lichte außergewöhnlicher Umstände können IOs strukturell ähnlich agieren wie nationale Regierungen im Ausnahmezustand: Sie eignen sich Notstandsgewalten an, indem sie ihren exekutiven Ermessensspielraum ausdehnen und gleichsam in die Rechte der Regelungsadressaten eingreifen. So zumindest argumentiere ich in meinem neuen Buch Emergency Powers of International Organizations (EPIO).

Seinen jüngsten Ausdruck findet dieses Phänomen in der Ausrufung des internationalen  Gesundheitsnotstands durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts des Ausbruchs des neuen Coronavirus (2019-nCoV). Um die internationale Reaktion zu steuern, hat sich die WHO mit zwar grundsätzlich beschränkten, aber dennoch außergewöhnlichen Befugnissen ausgestattet. Während diese Kompetenz heute in den Internationalen Gesundheitsvorschriften festgeschrieben ist, hatte die WHO sie erstmalig während der SARS-Krise im Jahr 2002/2003 außerhalb geltenden Rechts für sich beansprucht. Ein ähnliches Beispiel liefert die Europäische Zentralbank (EZB) während der Eurokrise: Um der Gefahr eines Auseinanderbrechens der Eurozone zu begegnen, erweiterte die Bank ihre Autorität, indem sie die Rolle eines Kreditgebers letzter Instanz für Mitgliedstaaten in der gemeinsamen Währung übernahm und diesen dafür im Gegenzug fiskalische Bedingungen auferlegte (sowohl als Teil der Troika als auch von sich aus) – ein Bruch mit der bisherigen Praxis, der die EZB in den Worten Deirdre Curtins zur „zentralsten und mächtigsten supranationalen Institution unserer Zeit“ machte. Als weiteres Beispiel mag die Antwort des UN-Sicherheitsrates auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 (9/11) dienen: Hier bemächtigte sich der Rat der Rolle eines globalen Gesetzgebers, indem er allen Staaten dauerhafte rechtliche Verpflichtungen auferlegte und zudem damit begann, Terrorverdächtige auf eine „schwarze Liste“ zu setzen, was für die Gelisteten harte Strafen ohne Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rechtsmitteln bedeutete. Beide Praktiken stellen eine faktische Ausweitung des exekutiven Ermessenspielraums des Rats dar.

Welche institutionellen Konsequenzen ergeben sich aus der Annahme von Notstandsgewalten durch IOs? Bleiben sie tatsächlich Ausnahmen und lassen die breitere Autoritätsstrukturen weitgehend unangetastet? Oder stellen sie sogenannte critical junctures dar, die den institutionellen Pfad der Organisation nachhaltig verändern?

Der Kampf um Normalisierung und Eindämmung

Beobachter von Notstandspolitik sind seit jeher über die Möglichkeit des Fortbestehens vermeintlicher Ausnahmebefugnisse besorgt. Tatsächlich gibt es unzählige Beispiele für Ausnahmezustände, in denen die ermächtigten Exekutivkräfte erfolgreich versucht haben, die ihnen anvertraute Ermessensfreiheit weit über den ursprünglich Krisenzeitpunkt hinaus auszudehnen. Auch auf IO-Ebene lösen Notstandsbefugnisse Konflikte über deren langfristiges Schicksal aus. Notstandsgewalten können allgemein als von der Verfassungsnormalität abweichende Sonderbefugnisse verstanden werden, die Akteure in existentiellen Krisen mit erweitertem Ermessenspielraum ausstattet, da verfassungsrechtliche Beschränkungen de jure oder de facto herabgesetzt werden. Die „Gewinner“ einer solchen Notstandsermächtigung, also diejenigen staatlichen oder institutionellen Akteure, die ihre Präferenzen durchsetzen und ihre politische Autonomie vergrößern können, werden tendenziell auf eine Normalisierung der außerordentlichen Befugnisse drängen. Die „Verlierer“ hingegen, d.h. staatliche oder gesellschaftliche Akteure, die negativ von den Notstandsmaßnahmen betroffen sind und deren politische Autonomie verringert wird, werden sich in der Regel für deren Umkehrung oder Eindämmung einsetzen.

Die Ergebnisse der darauffolgenden politischen Konflikte variieren. Im UN-Sicherheitsrat beispielsweise führte der Streit um seine internationale Gesetzgebungspraxis zu deren faktischer Normalisierung. Trotz anfänglicher Auseinandersetzungen und Widerstände baute der Rat auf seinen selbst geschaffenen Präzedenzfällen auf und weitete im Laufe der Zeit seine gesetzgeberischen Maßnahmen auf verschiedene Politikbereiche aus. In EPIO bezeichne ich dies als ratchet effect (Sperrklinkeneffekt). Im Gegensatz dazu hat das System individueller Sanktionen gegen Terrorverdächtige (die sogenannten Terrorlisten) einen erstaunlichen Trend der Einhegung erfahren. Nach jahrelangen politischen und rechtlichen Streitigkeiten machte der Rat den Gegnern der Praxis institutionelle Zugeständnisse, die viele Probleme auf Prozessebene korrigierten. In EPIO nenne ich dies einen rollback effect (Rückdrängungseffekt).

Die naheliegende Frage lautet: Wann werden IO-Notstandsgewalten normalisiert (ratchet) und wann zurückgedrängt (rollback)? Unter welchen Bedingungen können die Proponenten der Normalisierung ihre Präferenzen durchsetzen, und unter welchen die Befürworter von Zurückdrängung?

Rhetorische Macht und Verhältnismäßigkeit

In EPIO entwickle ich eine Proportionalitätstheorie für IO-Notstandsgewalten, um die unterschiedlichen institutionellen Konsequenzen der Notstandspolitik internationaler Organisationen zu erklären. Basierend auf den Kernannahmen des soziologischen Institutionalismus besagt sie, dass für das längerfristige Schicksal von IO-Notstandsgewalten entscheidend ist, wie die rhetorische Macht unter den Koalitionen von “Pro-Ratchet”- und “Pro-Rollback”-Akteuren verteilt ist.

Rhetorische Macht lässt sich als die Fähigkeit eines Akteurs verstehen, einen Adressatenkreis argumentativ von der Angemessenheit seiner Positionen zu überzeugen. Im Kampf um Normalisierung und Eindämmung setzen die widerstreitenden Akteurskoalitionen normative Argumente strategisch ein, um IO-Notstandsgewalten zu rechtfertigen oder sie anzufechten. Wenn die Pro-Rollback-Koalition die Aufrechterhaltung der Notstandsbefugnisse in den Augen des Adressatenkreises erfolgreich delegitimiert, ist die IO gezwungen, institutionelle Zugeständnisse zu machen, um ihre Autorität nicht zu gefährden. Nur wenn die Pro-Ratchet-Koalition die Notstandsgewalten überzeugend als legitim rechtfertigen kann, können sie Bestand haben.

Doch auf Grundlage welchen Legitimitätsstandards werden IO-Notstandsgewalten argumentativ gerechtfertigt oder angefochten? In Übereinstimmung mit normativen Theorien zum Ausnahmezustand und der Theorie des Gerechten Krieges liegt der Hauptbezugspunkt der Debatten über IO-Notstandsgewalten in deren Verhältnismäßigkeit. Die Grundannahme besteht darin, dass Notstandsgewalten prinzipiell normativ rechtfertigbar sein können, um eine größere Bedrohung abzuwenden. Da sie jedoch stets verfassungsmäßige Kosten verursachen, kann dies nur dann der Fall sein, wenn die Bedrohung der politischen Ordnung außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich macht und diese zur Behebung des Problems wirksam sind. Dementsprechend wird die Pro-Rollback-Koalition in erster Linie argumentieren, dass die IO-Notstandsbefugnisse unverhältnismäßig sind, weil ihre Kosten überhöht sind (da sie entweder unnötig oder unwirksam sind). Umgekehrt wird die Pro-Ratchet-Koalition versuchen zu argumentieren, dass die Notstandsbefugnisse verhältnismäßig sind, da die Kosten durch die Notwendigkeit und/oder Funktionalität der Maßnahmen aufgewogen werden.

Wer gewinnt die Oberhand in diesen rhetorischen Auseinandersetzungen? EPIO betont die Relevanz „rhetorischer Opportunitätsstrukturen“. Demgemäß ist weder die Position der sprechenden Akteure Haupttreiber, noch die Kraft der Sprechakte selbst. Vielmehr hängt es von der Glaubwürdigkeit der Argumente im Lichte äußerer Bedingungen ab, ob Ansprüche über die (Un-) Verhältnismäßigkeit der IO-Notstandsbefugnisse beim Publikum Anklang finden oder nicht. Argumente der Notwendigkeit sollten beispielsweise mehr Anklang finden, wenn eine Krise allgemein als intensiv und dauerhaft wahrgenommen wird. Ebenso überzeugen Argumente zur Funktionalität vermutlich einen größeren Teil des Adressatenkreises, sofern die Akteure klare Hinweise auf ihre Wirksamkeit geben können. Zuletzt sollten Argumente bezüglich exzessiver Kosten am stärksten sein, wenn Notstandsmaßnahmen besonders tief in die Rechte der Regelungsadressaten eingreifen und beispielsweise allgemein anerkannte Individualrechte beeinträchtigen.

Ratchet und Rollback im UN-Sicherheitsrat – eine Illustration

Am bereits genannten Beispiel der Notstandsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrates nach dem 11. September können die unterschiedlichen Ergebnisse von Normalisierung und Eindämmung gut zur Verteilung der rhetorischen Macht unter den gegnerischen Koalitionen zurückverfolgt werden.

Was sich über die Fälle hinweg unterschied, waren die für die Akteurskoalitionen nutzbaren rhetorischen Möglichkeiten. Im Falle der globalen Gesetzgebung des Rates konnte die Pro-Ratchet-Koalition die Notstandsbefugnisse als verhältnismäßig rechtfertigen, da einerseits ein hohes Maß an anhaltender Krisenwahrnehmung in Bezug auf den transnationalen Terrorismus den Notwendigkeitsargumenten Glaubwürdigkeit verlieh. Andererseits erschwerte eine relativ geringe Eingriffstiefe der gesetzgeberischen Maßnahmen (Eingriffe nur in die Souveränitätsrechte von Staaten) ein Anprangern exzessiver Kosten.

Im Gegensatz dazu waren im Falle der gezielten Sanktionen des Rates gegen Terrorverdächtige die rhetorischen Möglichkeiten umgekehrt. Zum einen stellten die Maßnahmen wesentlich tiefere Eingriffe dar, da sie ordnungsgemäße Verfahrensrechte für Individuen außer Kraft setzten, die eine nahezu universelle Akzeptanz genießen. Die Pro-Rollback-Koalition konnte sich somit Argumente zu überhöhten verfassungsmäßigen Kosten zunutze machen. Zudem war die öffentliche Krisenwahrnehmung bereits stark zurückgegangen als die Auseinandersetzung auf ihrem Höhepunkt war (2006-2012). Es wurde daher für die Pro-Ratchet-Koalition immer schwieriger, die Fortsetzung der Notstandsmaßnahmen auf Grundlage von Notwendigkeitsargumenten zu rechtfertigen. Infolgedessen weitete sich die Kritik an der willkürlichen Autorität des Rates gegenüber Einzelpersonen zunehmend aus und wurde immer deutlicher, bis der Rat dem Druck schließlich nachgab und schrittweisen Einschränkungen seiner Autorität zustimmte.

In EPIO argumentiere ich daher, dass es die Verteilung rhetorischer Macht ist, die die unterschiedlichen Ergebnisse von Ratchets und Rollbacks im UN-Sicherheitsrat am besten erklärt. In dem Buch wird die Verhältnismäßigkeitstheorie in vier weiteren Fällen von Notstandsgewalten der Europäischen Union und der Weltgesundheitsorganisation gegen alternative Theorien getestet.

Sind IO-Notstandsbefugnisse gute oder schlechte Nachrichten für die Global Governance?

Die Tatsache, dass IOs heutzutage auf Notstandspolitik zurückgreifen können, mag Beobachtern von Global Governance als Grund zu Optimismus dienen. Schließlich könnte man argumentieren, dass IOs in diesen Fällen (endlich) tun, wofür sie vorgesehen sind. In der Tat liegt in der Notstandspolitik internationaler Organisationen ein gewisses Potenzial. Gerade in den festgefahrenen Strukturen internationaler Politik, in denen  Institutionen mit unvollständigen Mandaten grenzüberschreitenden Krisen gegenüberstehen, können IO-Notstandsgewalten einen willkommenen Ausweg auf dem Pfad zur tatsächlichen Lösung globaler Probleme darstellen. Das Eingreifen der WHO in die SARS-Krise 2003 steht so vielleicht beispielhaft für Fälle, in denen IO-Notstandspolitik buchstäblich Leben gerettet hat und weniger durchsetzungsstarkes Handeln beängstigende Konsequenzen hätte haben können – wie das Ebola-Fiasko 2014 zeigt. Es bleibt abzuwarten, ob es im Fall von 2019-nCoV zu einer angemessenen Handhabung seitens der Organisation kommen wird.

Andererseits gehen IO-Notstandsbefugnisse auch Hand in Hand mit erheblichen normative Problemen. Erstens sind IO-Autoritätssprünge (insbesondere im Falle einer Normalisierung) Akte der Selbstermächtigung durch exekutive Akteure. Im grundsätzlichen Widerspruch zu demokratischen Prinzipien „usurpieren“ konstituierte Organe die Rolle der konstituierenden Gewalt. Dieses Problem ist nicht nur theoretisch: je weniger IOs als demokratisch angesehen werden, desto anfälliger sind sie für nationalistische Delegitimationsversuche. Zweitens haben IOs bis jetzt noch nicht das regulative Ideal von Notstandsgewalten akzeptiert. In Ermangelung tatsächlicher Notstandsverfassungen, die in IO-Rechtsordnungen verankert wären, ist die Notstandspolitik internationaler Organisationen in der Regel extra-legal, informell und verschwiegen. Dies bedeutet nicht nur, dass Notstandsgewalten von IOs auf Abwege geraten könnten, sondern auch, dass die Integrität der Rechtsordnungen internationaler Organisationen gefährdet ist. Drittens können IO-Notstandsgewalten zwar für ihr Potenzial gelobt werden, dem Voluntarismus souveräner Staaten zu trotzen. Sie stellen aber ebenso eine Gelegenheit für mächtige Staaten dar, IO-Autorität für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen und ihre Interessen international durchzusetzen.

Die Aufgabe besteht darin, Wege zu finden, um das Potenzial von IO-Notstandsbefugnissen auszuschöpfen und gleichzeitig deren Gefahren zu beseitigen. Theorie und Geschichte der Notstandsproblematik im Inland zeugen von der enormen Größe dieses Unterfangens.

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