Tunesien hat in den vergangenen Wochen ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten gewählt. Neun Jahre nach Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings hat das Land auf der Ebene demokratischer Institutionen und Prozesse viel erreicht: die Verabschiedung einer wegweisenden neuen Verfassung, die Abhaltung von friedlichen, freien und fairen Wahlen, sowie die Etablierung einer vielfältigen Landschaft von Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängigen Medien. Angesichts großer politischer und ökonomischer Herausforderungen braucht es nun im Parlament dennoch die richtige Balance zwischen Konsensorientierung und politischer Auseinandersetzung.
Politikverdrossenheit? Nicht so voreilig
Innerhalb weniger Wochen wurden in Tunesien gleich dreimal landesweite Wahlen abgehalten. Durch den Tod des ehemaligen Präsidenten Essebsi mussten die Präsidentschaftswahlen vorgezogen werden, sodass das Parlament zwischen zwei Wahlrunden um das Amt des Präsidenten gewählt wurde. In allen drei Wahlrunden bescheinigten nationale und internationale Beobachter*innen Tunesien überwiegend freie, faire und kompetitive Wahlen. Wenn es etwas zu beanstanden gab, konnten die Beobachter*innen dies öffentlich machen. So hat zum Beispiel die tunesische NGO iWatch eine Reihe kritischer Vorfälle auf Twitter dokumentiert. Blieb die Wahlbeteiligung bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 49% und insbesondere bei den Parlamentswahlen mit 41% noch sehr niedrig, so ist dies kein genereller Ausdruck von politischem Desinteresse. Bei der Stichwahl um das Präsidentenamt am 13. Oktober war die Beteiligung mit 58% deutlich höher. Und auch die erstmals durchgeführten Fernsehdebatten zu den Präsidentschaftswahlen erreichten enorm hohe Einschaltquoten. Bei der kurzfristig angesetzten Debatte am Freitagabend vor der Stichwahl schaute über die Hälfte der Bevölkerung zu.
Populismus, Fragmentierung und fehlende Verfassungshüter*innen
Trotz der Erfolge steht das Land vor großen Herausforderungen. Wie auch in vielen etablierten Demokratien gibt es eine Fragmentierung der politischen Landschaft sowie Misstrauen in die politische Klasse, das mit einem Aufstieg neuer, teils populistischer Kräfte einhergeht. Verfassungsrechtler Kais Saied, der mit einer deutlichen Mehrheit von knapp 73% in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt wurde, verspricht als unabhängiger Kandidat eine Abkehr vom „Weiter so“. Aber auch dass ein Medienmogul wie Nabil Karoui, der es immerhin in die Stichwahl schaffte, großen politischen Zuspruch erfahren hat, obwohl er mit Vorwürfen von Geldwäsche und Steuerhinterziehung konfrontiert ist, ist dabei nicht spezifisch für den tunesischen Kontext. Ähnliche Dynamiken lassen sich auch in etablierten Demokratien wie beispielsweise Italien beobachten.
Ein großer Makel des Demokratisierungsprozesses bleibt das fehlende Verfassungsgericht. Das Parlament hat es bisher nicht geschafft, sich auf die Nominierung von Richter*innen zu einigen. Dies führt dazu, dass in unklaren Situationen, in denen das Verfassungsgericht eine zentrale Rolle spielen sollte eine Instanz zur rechtlichen Überprüfung fehlt. Nach dem Tod von Präsident Essebsi hielten sich zwar trotzdem alle Akteur*innen an das vorgesehene verfassungsgemäße Prozedere. Doch die Problematik zeigte sich wieder im Kontext der Präsidentschaftswahlen, als das Kassationsgericht die Freilassung des bis dahin in Untersuchungshaft befindlichen Kandidaten Karoui entgegen vorheriger Entscheidungen anordnete.
Handlungsfähiges Parlament statt Technokratie
Bei allen Erfolgen im Demokratisierungsprozess, strukturelle Probleme in Tunesien bleiben. Allen voran soziale Ungleichheit und Jugendarbeitslosigkeit sowie die mangelnde Aufarbeitung und Überwindung alter Machtstrukturen der Ben-Ali-Diktatur.
Deswegen muss das neue Parlament in Tunis über politische Lager hinweg eine stabile Regierung bilden, um grundlegende Herausforderungen wie die schlechte Wirtschaftslage und dringend notwendige Reformen anzugehen, zum Beispiel in der Justiz und im Sicherheitssektor. Da die Parlamentswahlen keine klaren Mehrheiten hervorgebracht haben und die beiden größten Parteien, die moderat-islamistische Ennahda und Karoui’s Qalb Tunis, eine gemeinsame Koalition zuvor ausgeschlossen hatten, wurden schnell Rufe nach der Bildung einer technokratischen Expertenregierung laut.
2014 war schon einmal eine technokratische Regierung im Amt, um die Zeit zwischen der Einigung auf eine neue Verfassung und der Durchführung von Wahlen zu überbrücken. Damals war sie auf diesen Übergangszeitraum begrenzt und ihre Einsetzung Ergebnis der Verhandlungen im Verfassungsprozess. Würde man dieses Mittel nun nicht nur als vorübergehende Notlösung, sondern zur regulären Regierungsbildung einsetzen, besteht die Gefahr, dass Wahlen als belanglos für die Regierungsbildung wahrgenommen werden. Es wird also darauf ankommen, ob den nun gewählten Parteien die Balance zwischen stabiler Regierungsmehrheit und politischer Streitkultur im Parlament gelingt, um politischen Stillstand zu vermeiden und die junge Demokratie nicht durch eine entpolitisierte Technokratenlösung auszuhöhlen.
Eine politische Einigung im neuformierten Parlament ist umso wichtiger, da der neu gewählte Präsident Kais Saied mit einem starken, direkt von den Wähler*innen erteilten Mandat ausgestattet ist. Allerdings hat er als unabhängiger Kandidat keine Machtbasis im Parlament. Ein potentieller Machtkampf zwischen einer demokratisch schwach legitimierten Technokratenregierung und einem direktgewählten Präsidenten könnte zu einem Risiko für die Demokratie in Tunesien werden.
Signalwirkung und Unterstützung
Wenn die einzige aus den Protesten in 2010/2011 entstandene parlamentarische Demokratie in Nordafrika an einem Demokratieverdruss der Bevölkerung oder mangelndem Reformvermögen scheitern sollte, hätte dies eine verheerende Signalwirkung für andere demokratische Akteur*innen in der Region.
Die Bundesregierung sollte Tunesien auf dem Weg der demokratischen Konsolidierung weiter unterstützen. Dabei ist wichtig, deutsches Engagement nicht nur durch die Brille der Migrationsvermeidung und Terrorismusbekämpfung zu betrachten. Partnerschaften sollten langfristig angelegt sein und neben der Exekutive auch mit dem Parlament und kritischen Akteur*innen in der Zivilgesellschaft und den Medien geschlossen werden. Dabei sollte deutlich gemacht werden, dass Rechenschaftspflicht und Transparenz des Justiz- und Sicherheitssektors gegenüber der Bevölkerung essentiell sind. Außerdem sollten deutsche und europäische Unternehmen und die Bundesregierung signalisieren, dass sie die Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftsverbrechen als zentral für die wirtschaftlichen Beziehungen und nicht als hinderlich für Investitionen ansehen.
Dr. Mariam Salehi ist A.SK Postdoc-Fellow am WZB. Sie forscht zu internationalisierten Prozessen politischen Wandels und hat zu Transition und Aufarbeitung in Tunesien promoviert.
Ilyas Saliba ist Research Associate am Global Public Policy Institute in Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB. Er forscht und arbeitet zu Demokratisierungsprozessen, Menschenrechten und autoritären Regimen im Nahen Osten und Nordafrika.
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