Der gesellschaftliche Rückhalt für die Europäische Union ist kein Selbstläufer mehr. Die öffentliche Meinung zur EU schwankt stark. Kritische Berichterstattung aus und über Brüssel nimmt zu. Und entschieden euroskeptische Kampagnen und Parteien erleben ungekannte Höhenflüge in vielen europäischen Mitgliedsstaaten.
Sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Debatte konzentriert sich dabei vor allem auf die Strategien der Europagegner. Die Politisierung der EU ist aber ein interaktiver Prozess. Für den Verlauf der öffentlichen Debatte sind die politischen Signale der etablierten Akteure mindestens genauso entscheidend.
Von Akteuren aus Regierungs- oder den großen Oppositionsparteien erwartet die politikwissenschaftliche Literatur aber vor allem Zurückhaltung bei europäischen Themen. Klare politische Signale seien deshalb nicht zu erwarten, weil man parteiinterne Spannungen umschiffen und Kompromisse auf europäischer Ebene nicht gefährden möchte. Im Kontext einer zunehmenden Politisierung ist das aber riskant: ein Mangel an Wettbewerb über politische Alternativen in Europa kann schnell zu fundamentaler Opposition gegen Europa führen (Variationen dieses Arguments zum Beispiel hier, hier, hier und hier). Wie also kommunizieren etablierte politische Akteure über Europa?
In einer früheren Studie haben Pieter De Wilde und ich das Angebot an Signalen zu europäischer Politik in vier nationalen Parlamenten über jeweils mehr als 20 Jahre untersucht. In diesen Schlüsselinstitutionen der repräsentativen Demokratie sprechen vor allem Regierungsparteien über die EU. Unabhängig von ihrer Färbung bieten etablierte Oppositionsparteien deutlich weniger Kommunikation über Europa an. Schlimmer noch, politische Signale zu Europa nehmen systematisch ab, wenn sich nationale Wahlen nähern oder die öffentliche Meinung zu Europa kritischer wird. Diese Befunde stützen die Annahme, dass Konfliktvermeidung zur EU eine dominante Kommunikationsstrategie etablierter Akteure ist.
Dies zeigt sich noch deutlicher, wenn man die Qualität dieser Kommunikation in den Blick nimmt. Für die Konferenz ‚What stories does Europe tell?‘ habe ich jeweils drei Sätze rund um wortwörtliche Referenzen zur EU oder zur Europäischen Integration aus insgesamt fast zwei Millionen parlamentarischen Reden in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und Spanien extrahiert. Dann habe ich für jedes dieser Textfenster den Flesh Reading Ease Score erhoben und diese Werte mit einer 1% Zufallsstichprobe von Reden im jeweiligen Parlament verglichen (insgesamt 19.260 Reden, Quelle der Textdaten: ParlSpeech). Dieser Lesbarkeitsindex basiert im Wesentlichen auf der Länge der verwendeten Sätze und Begriffe. Er wird vor allem in der Psycholinguistik verwendet, um die kognitiven Voraussetzungen zu quantifizieren, die zum Verständnis eines Textes notwendig sind. Mit diesem Instrumentarium lässt sich zumindest grob zeigen, wie verständlich die Kommunikation über Europa im Vergleich zu einer durchschnittlichen politischen Rede im jeweiligen Land ist.
Die absolute Interpretation und der Vergleich über verschiedene Sprachen solcher Lesbarkeitsindizes sind mit Vorsicht zu genießen. Aus relativer Perspektive ist der Befund jedoch eindeutig: In jedem der vier über mehr als 20 Jahre untersuchten Länder sind die kommunikativen Signale zur EU systematisch schwerer zu verstehen als die durchschnittliche parlamentarische Rede. Anders ausgedrückt: bei EU-Themen sollte es Wählern systematisch schwerer fallen, ein klares politisches Signal zu empfangen.
Man könnte nun natürlich argumentieren, dass EU-Themen per se komplexer sind. Das halte ich aber aus zwei Gründen für unglaubwürdig. Einerseits weisen auch nationale Themen hohe technische Komplexität auf – man denke zum Beispiel an Steuergesetzgebung oder Krankenversicherungssysteme. Aus rein sachlichen Gründen sollte sich die Vergleichsstichprobe deshalb eigentlich nicht systematisch unterscheiden. Andererseits kann man plausibel annehmen, dass gewählte Parlamentarier professionell kommunizieren. Gerade bei vorbereiteten Reden steht es Politikern frei, auch komplexere Themen mit prägnanten Sätzen und einfachen Begrifflichkeiten zu vermitteln. Auch hier können wir also annehmen, dass die EU-Kommunikation etablierter politischer Akteure aus strategischen Gründen vorsichtig, wenn nicht sogar zaghaft ist.
Dieses strategische Argument wird letztlich auch durch eine gerade erschienene Studie zusammen mit Bart Bes und Martijn Schoonvelde bekräftigt. Hier haben wir die EU-Kommunikation in etwa 9.000 öffentlichen Reden von Staats- und Regierungschefs sowie Europäischen Kommissaren während der Eurokrise 2007-2015 untersucht. Ein Kernbefund: die rhetorischen Signale über Europa werden umso schwerer verständlich, je negativer die öffentliche Meinung gegenüber der EU ist und je erfolgreicher euroskeptische Parteien an der Wahlurne sind. Auch hier versuchen etablierte Akteure also eher politische Konflikte um Europa zu entschärfen anstatt klare politische Signale zu senden.
Diese zaghafte Kommunikation mag aus kurzfristigen Erwägungen erklärbar sein. Man kann aber bezweifeln, dass diese Strategie vor dem Hintergrund einer starken öffentlichen EU-Politisierung dauerhaft erfolgreich ist. Europäische Positionen sprachlich zu verschleiern, anstatt sie explizit und proaktiv zu rechtfertigen, spielt mithin den Akteuren in die Hände, die mit dem Argument eines bürgerfernen Elitenkonsenses auf Stimmenfang gehen.