Dieser Text ist eine Antwort auf Frank Nullmeiers Buchbesprechung
“Legitimationsprobleme des Global Governance Systems. Michael Zürns Theorie der globalen Politik”, erschienen hier und hier.
Frank Nullmeier hat sich im Theorieblog kritisch mit meiner „Theory of Global Governance“ (TOGG) auseinandergesetzt. Über seine kluge Kritik freue ich mich und möchte im Gegenzug darauf reagieren. Im besten Fall regt die Auseinandersetzung weitere Beiträge an. Frank Nullmeiers Beitrag beruht auf einer äußerst konzisen und fairen Zusammenfassung der Argumentation. Besonders schmeichelhaft ist es dabei, wenn er die Theoriekonstruktionsprinzipien von Jürgen Habermas‘ „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ als Vergleichsfolie heranzieht. Schmeicheleien sind aber oft zweischneidig und so auch hier. Bei einem solchen Vergleich werden nämlich Defizite nur allzu gut sichtbar. Frank Nullmeier hebt in seiner Kritik v.a. drei Punkte hervor. Zum einen erweist sich der Anspruch von TOGG vor dem Habermasschen Hintergrund als geradezu bescheiden. Es handelt sich nur um eine Theorie des (globalen) politischen Systems und stellt keine Theorie der (kapitalistischen) Weltgesellschaft dar. Dadurch – so der zentrale Kritikpunkt von Frank Nullmeier – würden aber andere gesellschaftliche Systeme und mithin gewaltbasierte und interessengeladene Macht- und Herrschaftsbeziehungen ausgeblendet. Zweitens werde der Begriff der Autorität überdehnt, indem er durch das Konzept der Aufforderungen (requests) weit gefasst wird. Politische Systeme arbeiten aber nach Easton und Nullmeier üblicherweise mit Anweisungen (commands). Und dann ist da auch noch die Eule der Minerva, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Ich möchte in dieser Reaktion kurz auf diese drei wichtigen Kritikpunkte eingehen.
TOGG ist in der Tat eine Theorie des globalen politischen Systems und keine Theorie der Weltgesellschaft oder der Internationalen Beziehungen im Ganzen. TOGG nimmt sich zur Aufgabe zu erklären, wie die Funktionsweise dieses politischen Systems systematisch Legitimationsprobleme erzeugt. Genauso wie etwa Arend Lijphart’s Theorie der Konsensdemokratie – um nochmals einen bedeutenden Referenzpunkt zu wählen – die Dynamik und die Effekte bestimmter politischer Systeme zu erklären versucht, ist TOGG eine Theorie über Effekte des globalen politischen Institutionensystems. Diese theoriearchitektonische Entscheidung impliziert, dass nicht die Frage im Mittelpunkt steht, wie etwa der Kapitalismus globale politische Entscheidungen beeinflusst. Diese Beobachtung von Frank Nullmeier trifft zu. Zutreffend ist auch, dass dadurch bestimmte Machtverhältnisse – etwa zwischen Multis und der Ausbeutung von Kinderarbeiterinnen und -arbeitern – nicht im Fokus der Betrachtung stehen. Frank Nullmeier hat also recht, wenn er feststellt, dass TOGG nicht alle weltgesellschaftlichen Probleme erklären kann. Die entscheidende Frage ist aber, ob eine solche „Beschränkung“ auf eine Theorie des politischen Systems wirklich systematisch Macht- und Interessenfragen ausblenden muss. Denn dann wäre ja jede Teiltheorie der Kultur, der Wissenschaft oder auch der Politik beschränkt.
Entscheidend aus differenzierungstheoretischer Sicht ist es, wie sich Prozesse außerhalb des politischen Systems in demselben niederschlagen und ggf. zu dessen Funktionsdefiziten beitragen. Genau dazu schweigt aber TOGG nicht. So übersetzen sich in TOGG beispielsweise die historisch gewachsenen Machtdifferenzen zwischen den kapitalistischen Ländern im Westen in eine „institutionalisierte Ungleichheit“ zwischen Staaten, die systematisch dafür sorgt, dass gleiche Fälle nicht gleich behandelt werden und konkrete ökonomische oder militärische Eingriffsentscheidungen systematisch die Interessen der westlichen Mächte widerspiegeln. Damit wird eines der zentralen ‚Strukturprobleme des globalen politischen Systems‘ (in Anlehnung an ein anderes Buch von 1973, von Claus Offe) bezeichnet. Gleichfalls erweist es sich, dass insbesondere die Autoritätssphären, die im Interesse einer offenen Weltwirtschaft und damit global agierender Unternehmen fungieren, besonders stark institutionalisiert sind. Daher können sie sich im Wettbewerb unterschiedlicher, aber nur lose gekoppelter Autoritätssphären durchsetzen, ohne dass sie durch sektoral übergreifende Öffentlichkeiten eingefangen werden können. Im Zweifel obsiegt daher im globalen System das Handelsrecht über das Umweltrecht. Das ist ein zweites Beispiel dafür, wie sich laut TOGG Machtdifferenzen aus anderen gesellschaftlichen Systemen in ungleiche Einflusschancen im globalen politischen System übersetzen. Es sind diese Machtungleichheiten, welche die Legitimationsprobleme in Form von institutionellen Defiziten erzeugt haben. TOGG als eine Theorie des globalen politischen Systems versucht also zu zeigen, wie solche Machtdifferenzen und außerpolitischen Herrschaftsverhältnisse in das politische System hineinspielen und sich dort institutionelle Form und Gestalt verschaffen.
Die zweite Frage: Überdehnt man politische Autorität und Herrschaft, wenn die Kategorie der Weisungen um die Kategorie der Anforderungen erweitert wird, wenn man also auf die epistemischen Grundlagen von Super- und Subordinationsbeziehungen verweist? Frank Nullmeiers Kritik legt eine positive Antwort auf diese Frage nahe. Ich möchte das bestreiten und plädiere aus drei Gründen für ein entschiedenes Nein. Erstens: Ideengeschichtlich sind die Weberschen „commands“ in der Anerkennung des Rechts begründet, in hierarchischen Verhältnissen Zwang auszuüben. Für das politische System geht es dabei im Kern um die Anerkennung der legitimen Gewaltsamkeit. Die Institutionen des internationalen politischen Systems besitzen aber kein derartiges Gewaltmonopol. Die Weltgesundheitsorganisation kann die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger nicht zwingen, sich impfen zu lassen. Folgt daraus, dass das globale politische System frei von Autorität, Hierarchie und Zwang ist und dass diese nur außerhalb des politischen Systems ausgeübt werden? Nein. Im globalen politischen System wird in vielfacher Hinsicht epistemische und politische Autorität ausgeübt. So gibt es sektorale Sanktionsmöglichkeiten und echte politische Autorität, wie es am deutlichsten der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der 1990er und 2000er Jahren demonstriert hat.
Zum Zweiten können rein epistemische Autoritätsbeziehungen wie die der „rating agencies“ über die Investoren dazu führen, dass, vermittelt über den Zwang, den Investoren auf Staaten ausüben können, Maßnahmen durchgesetzt werden, auch wenn sie die Form von „requests“ annehmen. Drittens schließlich beruht die Autorität vieler Institutionen auf der Reproduktion einer Wissensordnung und der mit ihr verankerten Hierarchien. Benchmarks aller Art regieren die Welt. Dass dadurch bestimmte Verhaltensweisen erzeugt werden, obwohl sie nur als Empfehlungen daherkommen, liegt auf der Hand. Das wird auch „governance by numbers“ genannt – ein Phänomen, das wir ja nicht zuletzt aus dem Wissenschaftssystem kennen. Die These, dass der Autoritätsbegriff mit der Öffnung desselben für „requests“ aufgeweicht und damit von seinem kritischen Potential befreit wird, scheint mir einem allzu materialistischen Macht- und Herrschaftsverständnis zu folgen. Adorno und Foucault haben mit Nachdruck darauf verwiesen, dass sich eine kritische Perspektive gerade auch für die epistemischen Grundlagen, für die Wissensordnungen der (globalen) Gesellschaft interessieren muss. TOGG versucht diese epistemischen Grundlagen des globalen Regierens in eine institutionalistische Theorie des globalen politischen Systems zu integrieren.
Bleibt die Eule der Minerva, die ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt. Dieses schöne Bild transportiert gleich einen doppelten Tadel. Erstens suggeriert es, dass TOGG eine Theorie über die fortschrittstrunkenen, aber vergangenen 1990er Jahre ist. Das ist aber nicht zutreffend. TOGG ist nämlich keine Theorie des globalen Systems, die sich zum Ziel setzt zu zeigen, wie stark und wirkmächtig Global Governance ist. Sie erklärt vor allem, weshalb die Global Governance, die in den 1990er Jahren entstanden ist, heute vor dem Abgrund steht und die Zahl der Feinde und Gegner dramatisch zugenommen hat. TOGG ist in diesem Sinne eine Theorie darüber, weshalb sich Global Governance derzeit in der Dämmerung zu befinden scheint – insofern eine Theorie der Dämmerung. Sie zeigt, dass die Zunahme von Konflikten und von nationalistischen Strömungen sowie die generelle Zurückweisung von internationalen Institutionen Ausdruck einer tiefen, endogen hergestellten Krise des globalen politischen Systems ist und löst sich damit von der weitverbreiteten Sichtweise in der IB, wonach die Zunahme von Konflikten automatisch für den Realismus spricht. Zugleich legt eine zweite Lesart der Eule nahe, dass TOGG im Sinne Hegels nicht vorwärtsgewandt ist und nur über das Vergangene und das Jetzt Aussagen macht. TOGG ist in der Tat eine Theorie, die wie fast alle sozialwissenschaftlichen Theorien keine Wetten auf die Zukunft erlaubt. Aber TOGG schaut doch vorwärtsgerichtet in den Abend hinein. Sie fragt nämlich auch, welche Reaktionen auf die Herausforderungen das globale politische System überleben und fortbestehen lassen kann. Insofern schaut sie nicht nur auf das, was gewesen ist, und ist im rein Hegelschen Sinne mehr als eine Theorie der Dämmerung.
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