Die vergangenen Tage haben Bewegung in die öffentliche Debatte um Katalonien gebracht. Die Verhaftung Puigdemonts am Montag in Schleswig-Holstein und seine mögliche Auslieferung nach Spanien, sowie die gescheiterte Wahl Jordi Turulls zum Regionalpräsidenten am vergangenen Donnerstag lenken die Aufmerksamkeit erneut auf die politische Krise im Herzen Europas. Debatten und Berichterstattung, prinzipiell Ausdruck demokratisch wünschenswerter Aushandlungsprozesse zum Zwecke der Konsensfindung, entfernen sich dabei jedoch zunehmend vom Habermaschen Ideal des zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes. Die Tendenz geht zu eindimensionaler Parteinahme, die das jeweilige Handeln der in der Debatte gegenüber gestellten Parteien – „die Katalanen“ gegen „die Regierung“ – mehr oder weniger deutlich als kritikwürdig, gar irrational darstellt. Welche Erklärungen bietet die politikwissenschaftliche Forschung um die Handlungsweisen der Akteure zu verstehen? Sind sie in der Tat so irrational wie häufig angenommen?
Im Vorfeld des Referendums im Oktober 2017 hat die Zentralregierung im Rahmen der Kriterien des spanischen Rechtstaats gehandelt. Kontinuierliche Referenzen auf die Verfassungsmäßigkeit des eigenen Vorgehens wirken deplatziert in einem Land, in dem etwa 60% der Bürger nicht sonderlich zufrieden sind mit der Funktionsweise ihrer Demokratie. Doch diese Referenzen erfolgen aus strategischen Gründen: Zum einen erhöhen sie die Legitimität des Vorgehens nach außen. So haben sich beispielsweise die Bundesregierung oder die Europäische Kommission hinter die spanische Regierung gestellt. Andererseits hat die Bezugnahme auf rechtliche Rahmenbedingungen auch innenpolitische Vorteile. Die spanische Regierung kann so von Korruptionsvorwürfen ablenken und findet einen Sündenbock für die Aushöhlung von Bürgerrechten und die Umkehrung langjähriger Devolutionsprozesse. Auch katalanische Politiker profitieren im Übrigen innenpolitisch von diesem Manöver.
Die Gewalteskalation im Kontext des verbotenen und von Regierungsseite massiv behinderten Referendums, bei der über 700 Menschen verletzt wurden, ist ein weiterer Aspekt in dem das Verhalten der Regierung unverhältnismäßig erscheint. Die Regierung wurde von UN Repräsentanten sogar explizit darauf hingewiesen, grundlegende Rechte in ihrer Reaktion auf das Referendum zu respektieren. In Anbetracht der Tatsache, dass das Land aus 17 autonomen Regionen besteht, und insbesondere das Baskenland bereits auf jahrelange, teilweise gewalttätige, Forderungen nach Unabhängigkeit zurückblickt, hat die Zentralregierung jedoch ein Interesse daran, einzelnen Regionen nicht zu weit entgegenzukommen. Der Rückgriff auf rechtliche Mittel und das harte Durchgreifen im Kontext des katalanischen Referendums sind erwartbare Strategien um die eigene Reputation als starker Gegner zu unterstreichen. Spanien ist in diesem Sinne geradezu ein Paradebeispiel rationalen staatlichen Handelns.
Schon zu Beginn der aktuellen Krise schlug Rajoy die potenzielle Vermittlung der EU im Konflikt aus. Warum? Die Katalanen unter Vermittlung an den Verhandlungstisch zu holen setzt die Anerkennung als gleichwertigen Verhandlungspartner und damit implizit auch die Akzeptanz ihres Vorgehens voraus. Eine Stärkung der Katalanen auf internationaler Ebene, die dadurch gefördert werden könnte, würde die spanische Regierung in Zugzwang bringen. Darüber hinaus zeigt die Forschung zur Entstehung von Staaten auf, dass externe Legitimität aus der Anerkennung durch andere Staaten für die Staatenentstehung wesentlich ist. Im Umkehrschluss ist das auch die Ursache, warum katalanische Repräsentanten ein großes Interesse an der Vermittlung der EU haben. Sitzen sie mit am Tisch, erhöht das die Chancen für Zugeständnisse.
Auch wenn Katalanen schon lange um größere autonome Rechte und Unabhängigkeit ringen, hat insbesondere der Verlust des rechtlichen Status‘ als Nation im Jahr 2010, zusammen mit dem von der effektiven Abwesenheit von Dialog geprägten Verhältnis zur Zentralregierung, dazu beigetragen, dass von katalanischer Seite zunehmend ein Unterdrückungsnarrativ erzählt wird, in dessen historische Kontinuität sich das aktuelle der Vorgehen der Regierung organisch einfügt. Eines der Kernergebnisse der Konfliktforschung ist, dass geteilte Diskriminierungserfahrungen eine wesentliche Grundlage für Mobilisierung und Konflikteskalation sind.
Trotz der (verfassungskonformen) Außerkraftsetzung des autonomen Status‘ der Region Ende Oktober, des Wahlerfolgs der die Unabhängigkeit unterstützenden Parteien im Dezember und der bisher erfolglosen Aufstellung von drei Kandidaten für das Amt der Regionalpräsidentschaft hat die links-separatistische Partei Candidatura d’Unitat Popular am vergangenen Freitag nicht für Jordi Turull gestimmt. Auch diese Entscheidung ist keineswegs irrational, da eine separatistische Gruppe einen auf Dialog bedachten, gemäßigten Kandidaten nicht zwangsläufig unterstützt, nur damit die Region wieder eine funktionierende Regierung bekommt. In der Tat ist Fraktionalisierung ein zentraler Faktor im Konfliktverhalten von Selbstbestimmungsgruppen weltweit, während es sich bei Spoilerverhalten um ein gängiges Problem in Friedensverhandlungen und Postkonfliktgesellschaften handelt.
Wie sieht ein Ausblick auf der Basis der Konfliktliteratur aus? Katalonien ist eine wirtschaftlich produktive Region mit starker regionaler Identität, eigener Sprache und einer langen Geschichte von Forderungen nach Selbstbestimmung. Die Idee eines unabhängigen Staates wird, insbesondere unter den gegenwärtigen Bedingungen, auch in Zukunft attraktiv bleiben. Eine aus gesamtspanischer Perspektive zielführendere Alternative wäre es gewesen, den Separatisten eine juristische Möglichkeit zu schaffen das Referendum abzuhalten, begleitet von einer affirmativen Kampagne für ein vereintes Spanien und weiteren Autonomierechten im Fall des Verbleibs im Mutterstaat. Die Konfrontationsstrategie der spanischen Regierung riskiert auch solche Wähler in die Arme der Separatisten zu treiben, die der Unabhängigkeit bisher neutral oder ablehnend gegenüberstanden, was sich empirisch in Experimenten und Umfragen zeigen lässt. Separatistische und eher radikale Kräfte haben dadurch zunehmend Anreize den Konflikt weiter zu schüren. Die getroffenen Entscheidungen machen es aber beiden Seiten schwer sich auf gesichtswahrende Art und Weise der aktuellen Situation zu entziehen. Auf der Basis der Literatur ist zu erwarten, dass der Konflikt effektiv unteilbar wird, denn beide Seiten haben ein Interesse maximalistische Positionen zu vertreten um am Verhandlungstisch große Zugeständnisse zu bekommen.
Aus normativer Sicht sollte das Ziel demokratischer Repräsentanten in dieser Situation sein, im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts und ökonomischen Wohlstandes das Land zusammenzuhalten. Die Zentralregierung als Repräsentanz der gesamten Bevölkerung ist hier besonders, wenn auch bei weitem nicht alleinig, in der Pflicht. Beide Seiten müssen von weiterer argumentativer, rechtlicher und tätlicher Eskalation absehen. Weitgehende Zugeständnisse von beiden Konfliktparteien werden nötig sein um gemäßigte Kräfte zu stärken und Spoiler argumentativ zu schwächen. Echter Föderalismus kann eine Strategie sein um dieses Ziel zu erreichen.
Während die Konfliktliteratur, wie ich in einem kürzlich erschienen Beitrag argumentiere, der Diversität von Motivationen und Ausdrucksformen von Selbstbestimmungsforderungen noch umfassender Rechnung tragen sollte, ist sie doch bereits jetzt gut ausgerüstet um die aktuelle Situation in Katalonien im Kontext rationaler Handlungsweisen und normativer Handlungsoptionen zu erklären und somit zu einer differenzierteren Debatte beizutragen.