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Kurz vor Weihnachten schickte ich die korrigierten Druckfahnen für mein neues Buch zurück an den Verlag. Mein englischer Lektor witzelte darauf hin, dass wir das Buch unbedingt an Donald Trump schicken sollten, damit er es liest. Angesichts der gerade bekannt gewordenen täglichen Leseleistungen des amerikanischen Präsidenten errechnete ich sofort, dass er unter Berücksichtigung der Sommerpausen voraussichtlich kurz vor Weihnachten 2019 fertig sein müsste. Doch als ich kurz darauf die National Security Strategy der Vereinigten Staaten von Amerika (NSS) mit dem Vorwort des Präsidenten sah, hegte ich den Verdacht, dass er zumindest das erste Kapitel meines Buchs bereits gelesen hat.
Dieses erste Kapitel handelt über die normative Grundierung des globalen politischen Systems. Demnach kann dann von einem globalen politischen System gesprochen werden, wenn drei Bedingungen erfüllt sind.
1) Die Mitglieder des Systems erkennen an, dass es zumindest ein rudimentäres globales Gemeinwohl und einige wenige Kollektivgüter jenseits des Nationalen gibt, deren Verwirklichung gemeinsam erreicht werden sollte.
2) Es existieren internationale Institutionen, die im Zweifelsfall auch gegen die kurzfristigen Interessen einzelner Mitglieder das Gemeinwohl durchsetzen können.
3) Diese öffentlichen Autoritäten rechtfertigen sich gegenüber denen, die von diesen Maßnahmen betroffen sind – egal ob mit guten Argumenten oder mit Manipulationsversuchen.
Ein globales politisches System, das diese Merkmale aufweist, ist in Ansätzen nach dem Zweiten Weltkrieg, spätestens aber mit dem Fall der Berliner Mauer entstanden. Ein solches globales politisches System ist nicht notwendigerweise gerecht und friedlich, es ist (gegenwärtig) vielmehr von Machtasymmetrien, ungleichen Beteiligungschancen, materiellen Ungleichheiten, Protest, Widerstand und von (berechtigter) Kritik an vielen Politiken geprägt.
Die Radikalität, mit der der Präsident des Landes, das diese globale politische System maßgeblich gestaltet hat, im Vorwort zur aktuellen NSS diese normativen Grundlagen unterläuft, ist bemerkenswert. Es lässt die Putins, Xi Jinpings, Erdogans und Orbans dieser Welt als Apologeten von Global Governance erscheinen. Als ob Trump mein Kapitel gelesen hätte, stellt er dabei zielgenau die drei genannten Grundlagen des globalen politischen Systems in Frage.
Erstens wird die bloße Idee eines globalen Gemeinwohls schlicht zurückgewiesen. Trump sieht eine von Konkurrenz geprägte Weltordnung. Insbesondere China und Russland werden als „rivalisierende Mächte“ gebrandmarkt, die den Einfluss der USA in Frage stellten. In Trumps Worten: „My (sic) Administration’s National Security Strategy lays out a strategic vision for protecting the American people and preserving our way of life, promoting our prosperity, preserving peace through strength, and advancing American influence in the world.” Gemeinsame Interessen, Kollektivgüter und ein globales Gemeinwohl kommen gar nicht erst vor. Und Frieden wird mit amerikanischer Dominanz gleichgesetzt.
Dementsprechend sind zweitens auch politische Institutionen zur Verwirklichung gemeinsamer Interessen überflüssig. Der Rückzug der USA aus dem Transpazifischen Handelsabkommen TPP sowie aus dem Klimavertrag von Paris werden von ihm daher als „Erfolge“ seiner Politik gewertet.
Drittens schließlich: Weder das Vorwort des Präsidenten noch das NSS-Papier vermitteln an irgendeiner Stelle den Eindruck, als würden sie sich an Menschen, Gruppen oder Regierungen außerhalb der USA wenden. Eine Rechtfertigung der Politik gegenüber denen, die davon betroffen sind, findet nicht statt.
Vielmehr werden Maßstäbe der Politik entfaltet, die in ihrer Einseitigkeit die normative Grundierung des globalen politischen Systems unterminieren: der Schutz des US-Heimatlandes, die Förderung amerikanischen Wohlstandes und wirtschaftlicher Sicherheit, die Verteidigung der amerikanischen Grenzen durch militärische Stärke und die Vergrößerung des amerikanischen Einflusses in der Welt. Die Welt, das Globale und das Kosmopolitische kommen konsequent nicht vor.
Damit unterscheidet sich die Rhetorik des amerikanischen Präsidenten von den Regierungschefs fast aller anderer Länder. Auch Putin und Xi Jinping versäumen es in ihren Grundsatzreden nicht, auf Aspekte eines globalen Gemeinwohls sowie auf die Notwendigkeit der internationalen Kooperation hinzuweisen und ihr Handeln auch mit Blick auf die Weltgemeinschaft zu rechtfertigen. Genau diese implizite Anerkennung normativer Grundlagen, gerade auch durch die Gegner einer westlich dominierten Ordnung, macht es sinnvoll, von einem globalen politischen System zu reden. Und diese zivilisatorische Errungenschaft scheint Donald Trump mit seiner Weltsicht, in der sich das Politische auf die Rivalität und das Nationale zu beschränken scheint, in Frage zu stellen. Die Trumpsche Feuerrhetorik ruft bei mir eine Mischung aus Sprachlosigkeit und Wut hervor.
Sicher, Rhetorik und politische Praxis sind nicht eins. Genauso wie viele konkrete Maßnahmen und Politiken der Putins und Erdogans ihre politische Rhetorik als leer und manipulativ erscheinen lassen, so hat die konkrete amerikanische Außenpolitik das globale politische System bisher nicht komplett negiert. Auf den gut 60 Seiten der neuen NSS finden sich vereinzelt noch Hinweise auf dessen Anerkennung (wenn man optimistisch ist, war Trump wahrscheinlich damit beschäftigt, über die normativen Grundlagen des globalen politischen Systems zu lesen).
Dennoch: In dem Maße, wie die Nationale Sicherheitsstrategie umgesetzt und die radikal-nationalistische Rhetorik fortgesetzt wird, sägen die USA an dem normativen Stamm, auf dem das globalen politischen System beruht. Sicher, das System ist defizitär und berücksichtigt die Interessen der benachteiligten Bevölkerungsschichten in den westlichen Industrieländern und weiter Teile des Globalen Südens in unzureichender Weise. Das muss geändert werden. Eine Unterminierung der normativen Grundlagen des globalen politischen Systems ist aber schlicht unverantwortliches Zündeln. Ohne dieses globale politische System, seiner Weiterentwicklung und verbesserten Legitimierung stehen uns schon in naher Zukunft eine Vielzahl an brutalen Krisen in unbekanntem Ausmaß bevor: eine Wirtschaftskrise, die an die frühen 1930er Jahre erinnern wird, eine Klimakrise, die viele Tote fordern wird, und eine Migrationswelle, die die Rede von Obergrenzen und Mauern als lächerlich erscheinen lässt. Fury kommt wie im Titel des bizarren Bestsellers nach Fire.