In der ersten Folge unserer neuen Interviewreihe spricht Lynda Iroulo mit dem Direktor der Abteilung Global Governance am WZB und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin – Michael Zürn. Dabei geht es um unseren neuen Blog, Populismus und internationale Beziehungen – und wir finden heraus mit welchem politischen Theoretiker Michael gerne Abendessen gehen würde.
Eine gekürzte und ins Deutsche übersetzte Version des Interviews finden Sie weiter unten oder Sie hören sich das gesamte Interview (auf Englisch) hier an:
Iroulo: Können Sie kurz die Abteilung Global Governance und den Blog vorstellen?
Zürn: Die Forscher*innen unserer Abteilung arbeiten hauptsächlich zu internationalen Institutionen. Wie funktionieren diese? Welchen Einfluss haben sie auf die Weltpolitik und wie kooperieren diese Institutionen im System, das wir Global Governance nennen? Aber auch die Theorien internationaler Politik interessieren uns. Wir sind eine lebendige und bunte Gruppe aus rund 25 Mitarbeiter*innen – Doktorand*innen, Postdocs, Forschungsassistent*innen und mir.
Iroulo: Worum wird es in dem neuen Blog gehen?
Zürn: Der Blog soll zunächst der Abteilung ein Forum bieten, um ihre Arbeiten zu präsentieren – in einer Form, die leicht verständlich ist und damit zugänglich für eine breitere Öffentlichkeit. Der Blog soll all jenen, die an unserer Forschung interessiert sind, die zentralen Botschaften unserer Arbeit vermitteln, ohne dass sie ein 400 Seiten dickes Buch lesen müssen, das ja einige unserer Doktorand*innen zum Abschluss ihrer Promotion schreiben. Der Blog soll aber auch dazu dienen, einige der praktischen und politischen Ideen zu vermitteln, die sich aus der Art unserer Arbeit ergeben. Wir diskutieren während unserer Mittagspausen oft sehr lebhaft darüber. Das kann dann schon mal zu längeren Erörterungen in der Gruppe führen. Diese interessanten und relevanten Debatten wollen wir in den Blog einbringen. Das wäre gewissermaßen die politische Dimension. Darüber hinaus ist es uns wichtig, dass der Blog auch als Plattform für den Austausch innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde angenommen wird. Der Blog soll also nicht nur ein Forum für unsere Forscher*innen sein, sondern auch Beiträge von Freunden, Gästen und Kolleg*innen anregen.
Iroulo: Es wäre für unsere Leser*innen auch interessant, mehr über Sie zu erfahren. Worin liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?
Zürn: Meine Forschungsinteressen sind natürlich mit jenen der gesamten Gruppe verbunden. Aber es sind wohl drei große Themen, die mich bislang am meisten beschäftigt haben oder noch immer beschäftigen. Mein akademisches Schreiben begann mit Fragen zu internationalen Regimen. Zunächst habe ich mich auf die Beantwortung der Frage konzentriert, die in den 1980er und 1990er Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: Warum arbeiten Staaten tatsächlich zusammen? Wenn Staaten eigennützige Einheiten sind, warum können sie dann miteinander kooperieren und Institutionen schaffen, die ihnen helfen, leichter zusammenzuarbeiten? Nach dieser frühen Phase meiner Forschung begann ich mich zunehmend darüber zu wundern, was das eigentlich normativ bedeutet. Sind die Ergebnisse dieser Verhandlungen gerecht? Oder sind sie im Wesentlichen nur ein Mittel für die westlichen Staaten, den globalen Süden zu kontrollieren? Was bedeutet das für demokratische Entscheidungsprozesse? Drittens habe ich dann angefangen, nicht nur darüber nachzudenken, warum Staaten miteinander kooperieren, sondern vielmehr darüber, warum es einige Institutionen gibt, die tatsächlich Autorität über Staaten ausüben. Besonders interessiert mich die Institutionalisierung dieser internationalen Institutionen zu einem nahezu politischen System, das autoritär über Staaten und Menschen zu regieren beginnt.
Iroulo: Die Frage, warum Staaten zusammenarbeiten, bleibt natürlich interessant. Hat sich seit den 1990er Jahren Ihre Meinung dazu geändert?
Zürn: In gewissem Maße, ja. In den 1990er Jahren ging unsere Disziplin im Wesentlichen davon aus, dass es Einheiten im System gibt, die von bestimmten Akteuren repräsentiert werden und dass diese Einheiten miteinander verhandeln. In diesem Sinne wurde versucht, gemeinsame Interessen und Lösungen zu finden, die den Akteuren am Verhandlungstisch helfen würden. Es wurde jedoch nur die Interaktion zwischen “identifizierbaren Akteuren” berücksichtigt. Mit der Entwicklung von Global Governance in den 1990er Jahren und der zunehmenden Autorität internationaler Institutionen wurden diese internationalen Verhandlungen öffentlicher. “Die Leute” haben plötzlich viel mehr Kontrolle über diese Institutionen erlangt. Nichtregierungsorganisationen und transnationale soziale Bewegungen mobilisieren beispielsweise, um Verhandlungsergebnisse zu beeinflussen, während sich Rechtspopulisten national organisieren, um diese Verhandlungen zu stoppen. All diese Dinge geschahen seit den 1990er Jahren. Es ist heute daher nicht mehr möglich, internationale Institutionen nur als Ergebnis von Verhandlungen zwischen Staaten zu verstehen.
Iroulo: Kommen wir zu aktuellen Themen wie dem Brexit, Trump und der Krise der EU. Werden internationale Institutionen dies überleben?
Zürn: Wir sollten Trump, den Brexit, aber auch Erdoğan, Orbán und einige andere rechtspopulistische Führer nicht als jemand oder etwas sehen, das aus dem Nichts als Feind des kosmopolitischen Denkens auftauchte. Sie sind – bis zu einem gewissen Grad – ein Produkt der Mängel, die mit dem Global Governance-System verbunden sind, wie es in den 1990er Jahren entstanden ist. In diesem System gab es immer noch zu viel Voreingenommenheit gegenüber westlichen Interessen; zu wenig institutionelle Kontrolle des Sicherheitsrats; und vielleicht zu viel neoliberale Aufdringlichkeit durch einige der Bretton-Woods-Institutionen. In diesem Sinne ist es meines Erachtens sogar möglich, den Aufstieg der “Trumps” und anderer Rechtspopulisten der Welt zu verstehen und zu erklären, indem man einerseits die zunehmende Stärke der Global-Governance-Institutionen berücksichtigt und andererseits die Mängel, die mit diesem System verbunden sind, einschließlich dessen Unfähigkeit, alle Personen einzubeziehen, die es benötigt, um auf lange Sicht erfolgreich zu sein.
Iroulo: Lassen Sie uns zu einer noch schwierigeren Frage kommen. Wenn Sie mit einem frühen politischen Theoretiker zu Abend essen könnten, wer wäre das und warum?
Zürn: Tatsächlich würde ich mich für zwei entscheiden: Immanuel Kant und Alexander von Humboldt. Das sind zwei Kosmopoliten, aber mit völlig verschiedenen intellektuellen Hintergründen: Der eine, der in Königsberg sitzt, diesen Ort nie verlässt und den Kosmopolitismus auf der Grundlage des im Wesentlichen deduktiven Denkens entwickelt, das wahrscheinlich die wichtigste Grundlage für alle liberalen Denkweisen bleibt. Und der andere, der im Wesentlichen zur gleichen offenen und kosmopolitischen Denkweise gelangte, jedoch nicht durch die Konzentration auf die Theorie, sondern vielmehr durch Reisen um die Welt. Es wäre sehr interessant, diese beiden zusammen zu bringen, insbesondere in Bezug auf die Fälle, in denen sie sich so einig sind.
Diese Interview wurde von Lynda Iroulo und Cédric Koch, Stipendiaten in der Forschungseinheit Global Governance und Mitglieder des Orders Beyond Borders-Team.
Wenn Sie sich das gesamte Interview auf Englisch anhören möchten, klicken Sie bitte hier.